Autor: Rainer Danne
Wilhelm Wessel (1904-1971) - Verwandlung als Prinzip
[…] Wilhelm Wessel gehörte zu der verlorenen Generation. Er war vor diesem Hintergrund Zeit seines Lebens ein Suchender. Impulsiv, weltoffen und leidenschaftlich in seinen jungen Wanderjahren, vorsichtig kalkulierend, abwägend und phasenweise durch eine gewisse Systemnähe kompromittiert. Erst spät fand er seine eigentliche künstlerische Bestimmung. Wie sollte man auf den radikalen Bruch nach dem Krieg reagieren? Die berühmten Künstler wie Beckmann, Schwitters, Klee, Kandinsky, Feininger und Kokoschka waren ins Exil getrieben worden und nicht zurückgekehrt. Es hatte zwar eine gewisse Kontinuität unterhalb der offiziellen Staatskunst während der NS-Zeit gegeben, aber der kulturelle Verlust und die nachhaltige Schwächung waren offensichtlich. Es blieb fast folgerichtig nur der Blick nach Paris, Amsterdam oder in die anderen Zentren, um Anregungen zu bekommen. Die unbelastete moderne Kunst leuchtete rückblickend als Beispiel für Integrität und Widerstand, und damit als eines der letzten idealisierbaren Symbole in den Ruinen der Nachkriegszeit. Der traumatisierten Künstlergeneration in Deutschland fehlte es dennoch vorerst an Willen und an der Kraft, um die bisherige künstlerische Entwicklung in schöpferischer und erneuernder Weise fortzuführen. Die Tradition war abgerissen. […]
1904 in Iserlohn in einer Arbeiterfamilie geboren, wurde Wilhelm Wessel nach dem Besuch der katholischen Mittelschule zur Lehrerausbildung an die katholische Präparandie nach Werl geschickt, wo er bis zu seinem Examen 1924 sieben Jahre verbrachte. Die ersten Grafiken, die in dieser Zeit entstanden, waren vom religiösen Milieu der Wallfahrtsstadt geprägt. […]
Wessel nahm die Ideale und Ziele seines katholischen Umfeldes in sich auf, zeigte aber bereits früh seine große Leidenschaft für das Reisen. Nach dem erfolgreichen Lehrerexamen stand für den jungen Mann fest, dass er Künstler werden wollte. Die folgenden Jahre verbrachte er auf Touren durch halb Europa. Die aktuellen künstlerischen Tendenzen waren Wessel dabei geläufig. Er suchte den Kontakt zu Kurt Schwitters und Wassily Kandinsky und verbrachte selbst eine kurze Zeit am Weimarer Bauhaus. […]
Die antiken Stätten, die der bildungshungrige Künstler auf zahlreichen Reisen rund um das Mittelmeer besuchte, übten eine […] große Faszination auf ihn aus. Die magische Welt der Altertümer nährte seinen Zweifel an der modernen Kunst […]. So begann der Künstler nach seiner Rückkehr 1927/28 ein Studium der vorderasiatischen und frühchristlichen Kunst in Berlin, wo 1930 das berühmte Pergamonmuseum mit seiner umfassenden Antikensammlung eröffnet wurde. Parallel zu seinen Studien schrieb er sich trotz seiner wachsenden Vorbehalte für ein Kunststudium an der Staatlichen Hochschule für freie und angewandte Kunst Berlin-Charlottenburg ein und besuchte die Klassen von César Klein (1876-1954) und dem „magischen Realisten“ Karl Hofer (1878-1955), dessen figurativer Stil den jungen Wessel begeisterte. […]
Die Leerstellen und Narben, die das NS-Regime mit seinem restaurativen Kunstverständnis in der deutschen Kulturlandschaft hinterlassen hatte, führte mit Ende des Zweiten Weltkriegs vielleicht gerade deshalb zu einem unmittelbaren zarten Aufblühen des kulturellen Lebens, weil das besiegte, zerstörte und ausgeblutete Land eine große Sehnsucht nach Normalität hatte. Wessel beantragte noch zu Kriegszeiten seine Entlassung aus dem Schuldienst, um fortan als freier Maler arbeiten zu können, ein mutiger und selbstbewusster Entschluss angesichts der unsicheren Ausgangslage. 1946 gründete er mit anderen heimischen Künstlern […] die Künstlervereinigung Ruhr-Lenne. […] Gemeinsam mit dem Soester Künstler Eberhard Viegener wurde er [im gleichen Jahr] zur Gründungsfigur des Westdeutschen Künstlerbundes im Hagener Karl Ernst Osthaus-Museum. […] Als nimmermüder Aktivist und Organisator von Ausstellungen wurde er nicht nur einer der treibenden Motoren in der westdeutschen Kunstszene. Er setzte seine Erfahrungen und Sprachkenntnisse Anfang der fünfziger Jahre auch dafür ein, den kulturellen Austausch mit dem europäischen Ausland neu aufzubauen und den Anschluss an die internationale Entwicklung wieder herzustellen. […]
Als wichtiger Mentor und Manager erwarb er sich große Verdienste um die deutsche Nachkriegskunst und erlebte selbst mit seinen ungegenständlichen Materialbildern den künstlerischen Durchbruch [als] Konsequenz eines langen Lernprozesses, der am Ende den nichtfigürlichen art autre in Anlehnung an die Nouvelle École de Paris in den fünfziger Jahren zu seinem Stil machte, unmittelbar und authentisch, impulsiv und improvisiert. […] Für Wessel wurde die Farbmaterie zu einem wesentlichen Merkmal seiner Kunst. […] Die greifbare Plastizität und physische Präsenz faszinieren ebenso wie die malerische Wirkung. […]
Sind die Werke Wessels in den fünfziger Jahren eher von dunklen und erdigen Tönen geprägt, wurde seine Palette in den sechziger Jahren deutlich lichter und heller. Collagen, Griffonagen und Textbilder drängten in den Vordergrund und leiteten eine neue Entwicklung ein. Neben den gesammelten künstlerischen Erfahrungen griff Wessel zunehmend auf einen besonderen Fundus zurück, das eigene Archiv aus Skizzen- und Tagebüchern. Diese Aufzeichnungen hatten ihn sein Leben lang begleitet. […] Das Spätwerk mit seiner engen Verzahnung von Malerei, Collage und Schrift bildete eine inhaltliche wie formale Klammer für das gesamte Lebenswerk. Auch seine Faszination für die expressiven Dichtungen [Franz] Kafkas und [Theodor] Däublers klingen noch einmal durch. Ein Lebenskreis scheint sich hier zu schließen. Die Veränderungen, die Wessels Leben durch die wechselnden Zeitläufe des 20. Jahrhunderts geprägt hatten, fanden hier ihren unmittelbaren Niederschlag. […]
ungekürzte Fassung in: Friedrich Grawert für die Emil Schumacher Stiftung, Hagen (Hrsg.): Wilhelm Wessel - Verwandlung als Prinzip. Ausstellungskatalog Emil Schumacher Museum Hagen, Dortmund: Kettler Verlag 2023, Seite 13-24